Erich Maria Remarque wollte mit seinem Roman Im Westen nichts Neues nicht ausdrücklich gegen den Krieg schreiben, weil er ein solches Buch für „überflüssig“(1) hielt. Dann, 1963, sagte er in einem Interview: „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“(2)
Was ist so faszinierend an Krieg?
Wohin trägt man im Jahr 2014 eine solche Frage? Wem vertraut man sich an, wenn man intelligente, unabhängige Antworten erwartet? Da ist Noam Chomsky(3) , der unangefochtene Superstar unter den amerikanischen Intellektuellen, der sich nur der Wahrheit verpflichtet fühlt – und sonst? Wer kann mir erklären, warum plötzlich im Westen die Kriegstrommeln immer lauter und zahlreicher werden? Warum wird Krieg medial salonfähig gemacht? Weshalb nutzen vornehmlich alte Männer ihre Millionen- und Milliarden-Dollar-Vermögen (oder wenn sie kein Geld haben, ihre Positionen), um mit aller Macht neue Feindbilder heraufzubeschwören? Warum werden weltweit farbige und saisonale Revolutionen organisiert, die dann allesamt in Gewalt und Chaos enden? Wie kommt es, dass veraltete Institutionen wie die NATO oder die OSZE selbst einen orange-farbenen Frühling erleben?
Mein Sommer im Krieg
Ich hatte etwas Zeit. Mein Buch über erfolgreiche Krisenbewältigung, das mich die vergangenen zwei Jahre Tag und Nacht beschäftigt hatte, war fertig geschrieben und im Lektorat. Vor mir lag der Sommer und ich konnte mich dem Thema widmen, das mir seit Monaten Angst macht: Krieg. Krieg und die Tatsache, dass sich Menschen immer und immer wieder für Zerstörung begeistern lassen. Warum ist das so?
Ich wollte von denen lernen, die sich mit Krieg auskennen – und begab mich in die Ivy League der Kriegsstudien: an die Princeton University und an das Londoner Institute for War Studies (King’s College). Zusammen mit jeweils einer Gruppe internationaler Studenten tauchte ich hinein in die Kurse “The Pardox of War” (Das Kriegsparadox) und in “Causes of war” (Kriegsgründe).
„Krieg ist Teil unserer Kultur.“
Mir begegneten kluge, hoch motivierte und hoch motivierende Professoren, die um die Aufmerksamkeit ihrer Studenten kämpften. Der Kunde ist König. Die Kunden, in dem Fall wir Studenten, wurden enthusiastisch eingeführt in die Welt des Krieges. “Warum man eigentlich Krieg studiert?”, war die erste Frage, zu der die Antwort gleich mitgeliefert wurde: “Um zu überleben! Um herauszufinden, wer wir sind! Krieg ist Teil unserer Kultur.”
“Krieg holt das Beste aus uns heraus.”
Blitzschnell ist die Rede von Helden, die durch Kriege entstehen und was Heldengeschichten im Volk bewirken: “Krieg holt das Beste aus uns heraus. Da wird eine Gemeinschaft zusammengeschweißt, die es vorher so nicht gab.” Ich lerne die wichtigste Regel beim Vorbereiten von Kriegen: “Der Feind muss ganz klar herausgestellt werden. Der Mensch, das Volk, muss verstehen, wer der Feind ist und wo der steht. Der Feind ist der ANDERE.” Es hilft, wenn er anders aussieht. Wenn nicht, muss man ihm andere Charaktereigenschaften zuordnen oder Gesichtsformen. Der Professor: “Es geht immer ums Anderssein. Es geht um die Anderen. Das Andere. Wenn das funktioniert, wird ein Wir-Gefühl in der Gesellschaft aufgebaut – WIR sind die Guten, wir sind die mit den richtigen Werten…”
Krieg, sagt er, “ist organisierte Gewalt. Für diese benötigt es Grundvoraussetzungen, wie eine gut funktionierende Bürokratie und Logistik, Organisation, Finanzierung, Training.“
Vor allem braucht Krieg einen Anlass.
Drei mögliche Gründe wurden beleuchtet: “Da ist einmal die kulturelle Seite, sprich, wenn ein falsches Verständnis von Überlegenheit vorliegt. Dann gibt es die materialistische Sichtweise: der andere hat, was ich haben möchte. Und die psychologische Perspektive: wenn eine Gesellschaft keinen anderen Ausweg mehr sieht, als zu kämpfen. Manchmal kommen auch mehrere Gründe zusammen.”
Wir sprachen über militärische Werte; über die Bedeutung von Führung, Glaube, Kameradschaft, Ehre, Mut und Pflicht innerhalb der Armee. Und darüber, “wie man zum Beispiel einen ungläubigen jungen Alleingänger in die Kameraderie des Militärs einführt?” Es wurde diskutiert über “den technischen Fortschritt, der immer neue Waffen mit immer größerer Vernichtungskraft hervorbringt. Und über die neuen Industriezweige, die sich durch den Krieg entwickeln.” Die Wirtschaft macht im Krieg einen Quantensprung; angeführt wird als Beispiel die US-Wirtschaft nach dem II. Weltkrieg. “Nach 1945 machte das US-Bruttoinlandsprodukt 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der gesamten Welt aus.”
So viel Wirtschaft, so wenig Menschlichkeit.
Ich warf ein, dass das vielleicht eine sehr einseitige Beleuchtung sei und Verlierer sicher eine andere Geschichte vom Krieg zu erzählen hätten. Mein Großvater hat in Stalingrad gekämpft; von ihm hat niemand etwas über Helden und Ehre und neue Industriezweige gehört. Ehrlich gesagt, hat er bis zu seinem Tod kein einziges Wort über den Krieg verloren. Vielleicht war es nicht so toll?
Ich stieß auf Unverständnis – hier ein paar Antworten aus dem Forum: “Die Kriege im Irak oder Afghanistan oder Syrien sind ja noch nicht zu Ende. Wer weiß, vielleicht sind die in ein paar hundert Jahren die Gewinner.” In ein paar hundert Jahren. Oder: “Deutschland ist doch ein prima Beispiel, wie ein Verlierer zum Gewinner wird.” Gibt es für Irak einen Marshall-Plan? Oder: “Zum Krieg gehören immer Zwei. Einer gewinnt, einer verliert.” Wie die Kinder in Gaza? Die Antwort vom Professor, den ich fragte, ob er den Krieg nicht sehr glorifiziere: “Natürlich tue ich das. Alle romantisieren den Krieg. Auch die Kriegsgegner.”
Ich fühlte mich sehr einsam.
Irgendwann ging es um Menschenleben und die ausgerotteten Völker in der Weltgeschichte. Es ging um Ethik und Moral. Der Professor: “Was ist im Krieg akzeptierbar? Die Gesellschaft akzeptiert, dass Soldaten in den Krieg ziehen und brutal morden. Die Gesellschaft akzeptiert, dass uns völlig fremden Menschen, Schmerz und Leid zugefügt, dass extreme Gewalt angewendet wird, dass sich Horrorszenarien und Massaker abspielen. Unakzeptabel ist dagegen, auf jemanden zu urinieren. Das eine wird gebilligt, das andere nicht.”
“Ist Krieg böse? Sind es die Menschen?”
In einem anderen Seminar setzten wir uns mit den folgenden Fragen auseinander: “Ist Krieg böse? Sind es die Menschen? Normale Menschen werden im Kampf zu bestialischen Mördern – wird im Krieg jeder zum Mörder? Ist Morden kulturunabhängig? Welche Maschinerie muss in Gang gesetzt werden, um den Durchschnittsbürger für den Krieg einzutakten? Wieviel Bürokratie und Organisation braucht ein Staat dafür?” Natürlich war Nazideutschland ein Beispiel. Es wurde von vielen verschiedenen Seiten analysiert. Dabei ging es weniger um Hitler, vielmehr um uns, die deutsche Bevölkerung, die willigen Vollstrecker mit ihrer perfekten Organisation, ihrem Unterwürfigkeitsdrang und ihrer gefährlichen Gleichgültigkeit, die einen wie Hitler erst hervorbringt und ihn an der Macht hält.
Der Wall Street-Effekt
Die Seminare in Princeton, anders als in London, waren wortgewaltige, kraftvolle, emotionsgeladene Präsentationen. Manchmal war der Krieg paradox, manchmal ein mörderisches Geschäft, manchmal liefen Tränen. Jedes Argument wird aufgeführt, jeder wird gehört, jedem wird eine Antwort gegeben. Man ist Teil eines Teams mit einem gemeinsamen Anliegen: diesmal war es der Krieg. Es hätte auch Coca Cola sein können.
Natürlich redeten wir über Tod und Gräuel und Blutvergießen. Aber anders. Weniger, wie ich es kenne, deutsch, europäisch, mit starkem Fokus auf Leid und Verlust. Hier ging es um das Große und Ganze, um die positiven Seiten eines Krieges, genauso wie um die negativen Seiten. Und weil das nicht von Langweilern vorgetragen wurde, sondern von mitreißenden Top-Akademikern, empfand ich es als gefährlich.
Man wird knallhart eingenordet.
Wer von den Studenten nicht mehr über Krieg weiß, als das, was er hier erfährt, wird ganz schnell mitgerissen von dieser The winner takes it all-Stimmung. Und diejenigen, die hier vier Jahre studieren, werden es kaum erwarten können, ins Pentagon oder zur CIA zu gehen, um sich ein paar Kriegsszenarien auszudenken. In meiner Wahrnehmung war das vergleichbar mit der paradoxen Reaktion auf Oliver Stones Kinofilm “Wall Street”. Stones Anspruch war damals, die Zuschauer aufzuklären und die Auswirkungen der Geldmanipulation zu zeigen. Es passierte das genaue Gegenteil – die Wall Street konnte sich anschließend vor Bewerbern nicht mehr retten (wahrscheinlich war Michael Douglas zu sexy). Aber immerhin, ein paar Studenten äußerten sich entsetzt über die enorme Gewalt, die in Kriegen praktiziert wird und das viele Blutvergießen, das im Kurs gezeigt wurde.
Kriege richten Unheil an – wer hätte das gedacht.
Vielleicht ist eine solche Entwicklung normal, wenn man Kriege nur exportiert und nie im eigenen Land hat. Dann ist man immer der Gewinner, selbst wenn man eigentlich nur Niederlagen einsteckt. Die Bevölkerung kennt Krieg nur aus dem Fernsehen oder von Videospielen. Afghanistan, Gaza, Syrien, Ukraine, Irak, orange-farbene oder grüne Revolution, bin Laden, bin Irgendwas – wen interessiert’s? Königin Rania von Jordanien schrieb vor kurzem in der Huffington Post(4), dass die Welt bereits ihre realen Hunger Games(5) kreiert hat.
Der Sommer ist um, die Kriege nicht – und neue sind Arbeit
Gewalt soll nun auch von uns Deutschen aktiv mit noch mehr Gewalt beantwortet werden. Da bleibt nur die Hoffnung, dass es in den alles entscheidenden Momenten Führungspersönlichkeiten gibt, deren Verantwortungsbewusstsein für die Gesellschaft größer ist, als das Vorankommen in der eigenen Karriere. Beispielhaft empfinde ich das Verhalten des britischen Generals Sir Mike Jackson. Jackson hatte sich 1999 als KFOR-Kommandeur geweigert, seinem NATO-Vorgesetzten zu folgen und die Konfrontation mit Russland zur totalen Eskalation zu bringen:
„SIR, I'M NOT GOING TO START WORLD WAR THREE FOR YOU - SIR, ICH WERDE FÜR SIE NICHT DEN DRITTEN WELTKRIEG BEGINNEN.“(6)
Wenn ich wüsste, dass jedes NATO-Mitglied einen so verantwortungsvollen und mutigen Vertreter in seiner Mannschaft hat, dann könnte ich auch wieder ruhig schlafen.
Quellenhinweise
(1) Weltbürger wider Willen. In: Der Spiegel. Nr. 2, 1952 (online).
(2) http://www.remarque.uos.de/artikel/beller.pdf
(3) Noam Chomsky, einer der bekanntesten US-amerikanischen Sprachwissenschaftler der Gegenwart, emeritierter MIT Professor
(4) http://en.wikipedia.org/wiki/Noam_Chomsky http://www.huffingtonpost.com/rania-al-abdullah/gaza-the-makings-of-a-mod_b_5615260.html
(5) http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tribute_von_Panem_–_The_Hunger_Games
(6) General Sir Mike Jackson: SOLDIER – The Autobiography, www.rbooks.co.uk